Constantin Jacob, Leiter Recht & Regulierung und Verbandsjustitiar im Customer Service & Call Center Verband Deutschland e. V. (CCV)
Am 14. Mai 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) aufgrund des in der EU-Grundrechtecharta und durch die Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG) gewährleisteten Arbeitnehmerschutzes, dass Unternehmen die täglich effektiv geleistete Arbeitszeit erfassen müssen. Der EuGH entschied, dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit der Mitarbeiter gemessen werden kann. Die Mitgliedstaaten müssen alle erforderlichen Maßnahmen treffen, dass den Arbeitnehmern die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten und die Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit der Arbeitszeitrichtlinie tatsächlich zugutekommen. Nur so könne der Arbeitsnehmerschutz einer effektiven Kontrolle durch Behörden und Gerichte zugeführt werden.
Der EuGH argumentiert, ohne ein System, das die tägliche Arbeitszeit misst, sei es schwierig oder praktisch unmöglich, dass Arbeitnehmer ihre Rechte durchsetzen können. Für die Frage, ob die Mindestruhezeiten oder die wöchentliche Höchstarbeitszeit eingehalten sind, sei die objektive, verlässliche Feststellung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit daher unerlässlich. Eine Regelung, die keine Verpflichtung der Arbeitgeber vorsehe, die Arbeitszeit systematisch zu erfassen, gefährde den Schutzzweck der Arbeitszeitrichtlinie (Sicherheit und Gesundheit). Ein System zur Arbeitszeiterfassung erleichtere den Arbeitnehmern den Nachweis der Überschreitung von Arbeits- bzw. Unterschreitung von Ruhezeiten und biete ein wirksames Mittel zur Kontrolle. Die Mitgliedstaaten müssen Arbeitgeber daher verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
In Deutschland ist gemäß § 16 Abs. 2 S. 1 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) der Arbeitgeber verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit (§ 3 ArbZG) hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer (Überstunden und Mehrarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit) zu erfassen. Eine weitergehende Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeit findet sich, außer für die nach § 17 Mindestlohngesetz (MiLoG) erfassten Wirtschaftsbereiche, im deutschen Recht nicht. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist folglich die gesamte Arbeitszeit vollständig zu dokumentieren. Wie der deutsche Gesetzgeber nunmehr das EuGH-Urteil umsetzt, wird sich zeigen. Der EuGH betonte, dass es den Mitgliedstaaten obliegt, konkrete Modalitäten der Umsetzung eines solchen Systems zu treffen und den Besonderheiten der Branche und der Größe der Unternehmen Rechnung zu tragen: Das Urteil richtet sich an die Mitgliedstaaten und nicht direkt an die Arbeitgeber.
In Zeiten der zunehmenden Digitalisierung und des Arbeitens 4.0 könnte die Umsetzung des Urteils flexible Modelle wie Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit sowie insbesondere kaufmännische und kreative Berufe erheblich treffen.
Der Entscheidung lag eine Klage einer spanischen Gewerkschaft gegen eine spanische Niederlassung der Deutschen Bank zugrunde. Die Bank sollte dazu verpflichtet werden, die täglich geleisteten Stunden ihrer Mitarbeiter aufzuzeichnen und so die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeiten sicherzustellen.
Bundesarbeitsminister Heil kündigte bereits eine Umsetzung des EuGH-Urteils bis Ende des Jahres an.
Der CCV fordert u. a. folgende Eckpunkte im Rahmen dieser gesetzgeberischen Umsetzung:
- Der deutsche Gesetzgeber darf keinesfalls über die Vorgaben des EuGH-Urteils hinausgehen.
- Auf flexible Arbeitszeitmodelle wie Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice muss Rücksicht genommen werden. Aus diesem Grund muss es möglich sein, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit auch selbst erfassen können. Das Urteil und dessen Umsetzung dürfen keinen Rückschritt für die digitale Arbeitswelt sowie flexible Arbeitszeitmodelle sein.
- Die Pflicht zur Zeiterfassung darf nicht zu hohen technischen Hürden führen, sondern muss auch einfach zu handhaben sein, z. B. mithilfe einer Excel-Tabelle.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 2022
Gemäß EuGH-Urteil vom 14. Mai 2019 (C-55/18, siehe oben) müssen die Mitgliedstaaten von den Arbeitgebern die Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems verlangen, mit dem die vom Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
In Deutschland regelt § 16 Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) eine Aufzeichnungspflicht, allerdings bislang dem Wortlaut nach nur für Arbeitszeiten über acht Stunden werktäglich sowie an Sonn- und Feiertagen. Die bislang in der Rechtswissenschaft herrschende Meinung ging davon aus, dass die deutsche Regelung keiner europarechtskonformen Auslegung zugänglich ist und deshalb eine Aufzeichnungspflicht für Arbeitszeiten unter acht Stunden täglich erst durch eine Gesetzesänderung eingeführt werden muss. Dies war auch das Ergebnis mehrerer Gutachten, etwa im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums (BMAS). Im aktuellen Koalitionsvertrag 2021 ist eine entsprechende Änderung des ArbZG angedacht. Bisher liegt jedoch noch kein Gesetzentwurf vor.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat nunmehr am 13. September 2022 (1 ABR 22/21) jedoch entschieden, dass § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) in dem Sinne europarechtlich auszulegen ist, dass die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit zu erfassen ist. Auch wenn das nicht ausdrücklich erwähnt ist, bezieht sich das voraussichtlich auf die gesamte Arbeitszeit, also auch unterhalb von werktäglich acht Stunden. Bisher liegt nur eine Pressemitteilung des BAG zu dem Beschluss vor. Weitere Details sind in der Mitteilung nicht enthalten. Mit einer detaillierten Begründung ist wohl erst in mehreren Monaten zu rechnen, über die wir informieren werden. Welche Auswirkungen der Beschluss konkret haben wird, lässt sich erst abschließend bewerten, wenn die Urteilsgründe vorliegen. Eine betriebliche Umsetzung des Beschlusses ist deshalb zum jetzigen Zeitpunkt nicht rechtssicher möglich.
Das BMAS hat FAQs zur BAG-Entscheidung veröffentlicht. Allerdings beruhen auch dessen FAQs nicht auf Informationen zu den BAG-Entscheidungsgründen. Das BMAS stellt zwar fest, dass die BAG-Entscheidung die aktuell geltende Rechtslage wiedergibt, dennoch besteht die oben erläuterte Problematik, dass die Entscheidungsgründe momentan nicht vorliegen und eine betriebliche Umsetzung in der Gewissheit, dass diese rechtssicher erfolgt, derzeit nicht möglich ist.
Zwar können Behörden gegenüber dem einzelnen Arbeitgeber eine konkrete Anordnung auf Einführung einer Zeiterfassung nach § 22 ArbSchG treffen. Da jedoch wie dargestellt die Entscheidungsgründe noch nicht bekannt sind, ist damit aktuell noch nicht zu rechnen.
Hinsichtlich der Form der Arbeitszeiterfassung (§ 3 ArbSchG lässt dem Arbeitgeber einen weiten Umsetzungsspielraum) gilt ebenso die Problematik, dass die Gründe nicht bekannt sind. Aktuell ist davon auszugehen, dass die Entscheidung keine Verschärfung mit sich bringt und auch bspw. eine Selbstaufzeichnung durch den Arbeitsnehmer, etwa unter Nutzung von Excel oder gar händisch, weiterhin zulässig ist, soweit eine stichprobenartige Kontrolle erfolgt.
Bzgl. der Vertrauensarbeitszeit war bereits bislang die Erfassung der Arbeitszeit von werktäglich mehr als acht Stunden sowie von Sonn- und Feiertagsarbeit geboten (BAG, 6. Mai 2003 – 1 ABR 13/02). Dies konnte auch durch eine Selbstaufzeichnung durch den Arbeitnehmer erfolgen. Aufgrund der nunmehr getroffenen BAG-Entscheidung könnte dies künftig auch für Arbeitszeiten unter werktäglich acht Stunden gelten.
Stand: September 2022
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